Mut zur Lücke (Teil 1)
/Alles fließt, meinten schon die Philosophen Heraklit und Platon. Vor allen Dingen die Zeit. Sie fließt dahin, unentwegt, stetig – Tage, Wochen, Jahre. Haben Sie auch manchmal das Gefühl, dass eine Woche gar nichts mehr ist – schwupps, schon wieder vorbei? Und dass nach dem Sommer bald schon wieder Weihnachten kommt? Alltagstätigkeit auf Alltagstätigkeit, Projekt auf Projekt, Besprechung auf Besprechung... Immer das Gleiche.
Dieses Phänomen, dass die Zeit immer schneller zu vergehen scheint, hat mit dem Lebensalter zu tun. Kindern erscheint alles noch wie eine Ewigkeit – morgen? Das ist ja noch sooo lang hin! Je älter man wird, desto schneller sind Augenblicke, Stunden vorbei. Ein Grund dafür: Der Mensch setzt die Zeitspanne, die er gerade erlebt, in Beziehung zu seinem gesamten bisherigen Leben. Einen Tag vergleicht er unbewusst mit der Summe aller bisheriger erlebter Tage. Für ein Kind ist ein Tag somit ein langer Abschnitt seines Lebens, für einen alten Menschen ein äußerst kleiner Teil. Ein zweiter Grund: Wir leben heute mit einer Fülle von Aufgaben, Ansprüchen, Begegnungen mit Menschen, Informationen, Reizen. Dadurch sind wir so in Anspruch genommen, dass wir vieles einfach nur noch schnell absolvieren und nicht mehr intensiv auskosten. Dadurch geht die Qualität des Augenblicks verloren.
Im Strom des Gewohnten
Ein weiterer Grund: Mit zunehmendem Alter ist immer mehr von dem, was uns begegnet, bekannt. Je öfter man Situationen erlebt, je mehr durch Wiederholung vertraut wird, desto weniger intensiv wird es erlebt. Und das führt dazu, dass das Leben immer schneller dahinzufließen scheint, als ein Strom bekannter Ereignisse – aufstehen, Zähne putzen, mit dem Auto oder der Bahn immer dieselbe Strecke zur Arbeit fahren, essen, mit meist denselben Menschen ähnliche Dinge besprechen... Und so schwimmen wir dahin auf diesem Fluss, der sich träge dahinbewegt. Vielleicht finden wir das nicht nur öde. Sondern sind sogar verstrickt in dieses Strömen der Dinge.
Wie Michael H. (Name geändert). Der erfolgreiche mittelständische Unternehmer stöhnt darüber, dass er sich nach Ruhe sehnt, nach Zeiten in der Natur, in denen er allein und ungestört sein kann. Die tun ihm gut, da tankt er Kraft. Stattdessen findet er sich immer wieder eingebunden in diverse Aufgaben und in intensivem Nachdenken über Probleme und Lösungsmöglichkeiten, das fast ins Grübeln ausarten kann. Er findet es schwierig, aus diesem Fluss auszusteigen, innezuhalten. Er ist von Automatismen beherrscht, die schon „Autobahnen“ im Gehirn gebildet haben, wie es der Hirnforscher Dr. Gerald Hüther nennt: Nervenimpulse rauschen wie schnelle Autos dahin, immer dieselbe Strecke entlang. Kleine abgelegene „Landstraßen“ werden nicht angesteuert. Denkgewohnheiten, die zur Eintönigkeit führen und stark belasten können. Denn sie führen gerade nicht zu dem gewünschten positiven Ergebnis, sondern halten gefangen und engen ein. Frische leichte lebendige Reaktionen werden so sehr schwierig. Die körpereigenen Ressourcen sprudeln nicht mehr. Es wird unangenehm und anstrengend.
Der Segen der Unterbrechungen
Der Fluss kann aber auch schneller und vielleicht aufgewühlt sein. Dann nämlich, wenn etwas Neues, Unvorhergesehenes geschieht. Plötzlich ist man wach, präsent, die Zeit bekommt eine andere Qualität. Zum ersten Mal in einem fremden Land, einer fremden Kultur spürt man Lebendigkeit im Aufnehmen des Überraschenden, des vielleicht sogar unangenehm Neuen. Der Einbruch in meine Gewohnheiten lässt mich hier sein, wo ich gerade bin, und das „Jetzt“ hautnah spüren. Ich erlebe etwas mit allen Sinnen, nicht nur nebenbei im Autopilot-Modus. Ich erfahre das Geschehen und mich selbst in beglückender und bereichernder Weise.
1. Innehalten – das Automatische unterbrechen
Wenn nicht von außen Neues an mich heran kommt, bin ich selbst gefordert, meinen Alltag mit Neuem, Überraschendem zu bereichern. Das kann etwas sein, das ich unternehme - ein Ausflug zur nahegelegenen Sehenswürdigkeit, der Tanzkurs, die Wandertour. Ich kann aber auch das entdecken, was ich kenne, mir aber nicht vertraut ist. Das ich tausendmal gesehen und doch nicht wirklich wahrgenommen habe. Das mir jeden Tag begegnet, mit dem ich mich aber noch nicht befasst habe. Dafür ist eines nötig: Ich muss mich in meinem Autopiloten-Modus, meiner „Alltagstrance“, wie es der Arzt Dr. Jon Kabat-Zinn nennt, unterbrechen lassen. Eine Lücke zulassen, umarmen und nutzen. Nicht einfach dahinrauschen auf dem Gehirndaten-Highway, sondern anhalten und neu wahrnehmen. Diese „Lücken-Kompetenz“, die Kunst des Innehaltens, ist eine wichtige Schlüsselkompetenz für erfolgreicheres und entspannteres Handeln. Wenn der Mensch schon ein Gewohnheitstier ist: Die Lücken-Kompetenz ist als ein grundlegender neuer Automatismus erstrebenwert. Durch die Pause im Strom gibt es eine Zeit und einen Raum, der nicht schon mit Bekanntem gefüllt ist und ein frisches kraftvolles Handeln ermöglicht, das passt. Der Psychologe Dr. Ulrich Ott sagt es so:
„In dieser Lücke zwischen Reiz und Reaktion werden uns Freiheitsgrade eröffnet. ... Wir sind dann nicht mehr jene Reiz-Reaktions-Roboter, die willfährigen Geschehnissen ausgeliefert sind. Stattdessen können wir als bewusste Wesen mit einem großen Spektrum an Erfahrungen und Möglichkeiten auf jeweilige Situationen angemessen reagieren. Wir erfahren den gegenwärtigen Moment lebendig. Wir sind ganz da.“ (Psychologie Heute August 2008)
2. Neu wahrnehmen – achtsam sein
Achtsamkeit ist ein wiederentdecktes uraltes Konzept. Ursprünglich im Buddhismus entdeckt, wurde auch von christlichen Mönchen die Wahrheit darin und sein Wert für ein gelingendes Leben erkannt. Heute wird Achtsamkeit mit Erfolg an Kliniken zur Stressbewältigung eingesetzt. Seine Essenz lässt sich so beschreiben:
Achtsam sein heißt: wach und klar im Hier und Jetzt sein ohne zu bewerten.
Ein Kind kann das noch. Es nimmt unmittelbarer, unverfälschter wahr, was ist. Es sieht eine Blume mit großen blauen Blüten und grünen langen Blättern in einem braunen Topf. Punkt. Erwachsene sehen diese Blume – eventuell – auch, aber sie denken dabei außerdem, dass man schon schönere Blumen gesehen hat, der Topf sauber gemacht und an einen besseren Platz gestellt und außerdem die trockenen Blätter entfernt werden müssten. Wichtige Dinge. Aber der Erwachsene beraubt sich durch das zu schnelle Bewerten, Vergleichen, Weiterdenken einer wesentlichen Qualität: des einfachen Wahrnehmens, was ist. Hier liegt die Chance, eine Lücke zu schaffen im Strom des Denkens und Handelns, das oft schon wieder ein oder zwei Schritte weiter in der Zukunft ist: „Ich muss noch dies und jenes tun...“
Quantitative und qualitative Zeit
Der Autor Dr. Marco von Münchhausen beschreibt zwei Arten der Zeitwahrnehmung: die quantitativ messbare Zeit, die von der Gegenwart in die Zukunft führt, und die qualitativ erfahrbare Zeit in der Gegenwart. Die messbare Zeit ereignet sich in unseren Gedanken. Wir denken in der Regel an Vergangenes oder an das, was kommt. Im Erfahren der Gegenwart, des Jetzt, liegt eine andere Qualität: Intensität und Tiefgang. Eine alte Weisheit sagt es so:
Ein Mönch wurde gefragt, worin das Geheimnis seiner Zufriedenheit und seiner glücklichen Ausstrahlung liege. Er meinte: „Das ist ganz einfach: Wenn ich stehe, dann stehe ich. Wenn ich gehe, dann gehe ich. Wenn ich esse, dann esse ich. Und wenn ich rede, dann rede ich.“ Erstaunt erwiderte der Fragende: „Aber das tun wir doch alle!“ „Nein,“ sagte der Mönch. „Wenn ihr steht, dann denkt ihr schon ans Gehen, wenn ihr geht, esst ihr schon in Gedanken, beim Essen redet ihr, und beim Reden denkt ihr schon darüber nach, was ihr danach tun werdet!“
Das freie, beglückende Erleben der Seele hat seinen Platz im gegenwärtigen Augenblick. Die Vergangenheit ist schon vorbei, die Zukunft kommt erst noch, nur die Gegenwart ist jetzt und ich kann sie genießen.
Karin Dölla-Höhfeld, www.doella-hoehfeld.de
Dieser Artikel ist zuerst erschienen in authentisch leben.